Babyn Yar Synagoge
Kiev, Ukraine
- Architekten
- Manuel Herz Architekten
- Standort
- Babyn Yar, Kiev, Ukraine
- Jahr
- 2021
- Bauherrschaft
- Babyn Yar Holocaust Memorial Foundation
- Team
- Maxim Gabai, Ben Olschner, Angeliki Giannisi, Isabella Pagliuca
- Creative Director (Babyn Yar Holocaust Memorial Foundation)
- Ilya Khrzhanovsky
- Bauleitung
- Oleksandr Laptev
- Fachplanung
- Dmytro Pisarevaliy, Yaroslav Novitskiy
- Projektleitung
- Oleksiy Makukhin
- Bemalung Dach
- C.I.Form, Kyiv
- Bemalung Wände
- Galina Andruschenko
- General Contractor
- Budsok, Kyiv
Babyn Yar ist ein, durch tiefe Schluchten geprägtes, bewaldetes Gebiet im Westen von Kiew, das früher den Rand der Stadt markierte. Es ist der Ort eines der schlimmsten Massakers des 20. Jahrhunderts, als am 29. und 30. September 1941 ca. 35.000 Juden von deutschen SS-Offizieren, ihren Einsatzgruppen und anderen Wehrmachtssoldaten mit Unterstützung lokaler ukrainischer Truppen, erschossen wurden. In den folgenden Wochen und Monaten wurden auf dem Gelände von Babyn Yar mehrere zehntausend weitere Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Kommunisten, ukrainische Nationalisten, Roma und Patienten einer nahe gelegenen, psychiatrischen Klinik ermordet. Dieser "Holocaust durch Kugeln" stellt eine der schlimmsten Gräueltaten unserer modernen Zeit dar.
Das Gebiet von Babyn Yar zeichnet sich durch eine stark zerklüftete Topographie aus. Genau diese Topographie machten sich die SS-Offiziere zunutze, als sie Zehntausende von Menschen töteten, ohne Massengräber ausheben zu müssen. Durch den Massenmord wurde eine neue Topographie geschaffen. Eine physische Topographie des Mordes. Der Boden von Babyn Yar kann daher als sakrosankt betrachtet werden.
In den folgenden Jahren und während der Sowjetzeit wurde die Topografie von Babyn Yar immer wieder verändert. Teile der Schlucht sind noch vorhanden, andere Teile wurden eingeebnet. Heute wird das Gebiet als Stadtpark genutzt. Nur wenige Gedenkstätten in Babyn Yar erinnern an das unvorstellbare Grauen, das sich auf diesem Gelände abspielte.
Die Babyn Yar Holocaust Memorial Foundation hat damit begonnen, in den kommenden Jahren eine Reihe kleinerer und größerer Bauten zu realisieren, um die Geschichte des Ortes in ihrer ganzen Komplexität zu würdigen. Die Babyn Yar Synagoge ist das erste Gebäude im Rahmen dieser Initiative. Sie ist als Synagoge gedacht, die an die Geschichte erinnert, aber auch eine lebendige jüdische Präsenz an diesem Ort wiederherstellt.
Der Entwurf
Wenn wir uns die Synagoge als Gebäudetypologie in ihrer reinsten Form vorstellen, können wir sie als ein Buch betrachten. Während des Gottesdienstes kommt eine Gemeinde zusammen, um gemeinsam ein Buch zu lesen - den Siddur (Gebetsbuch) oder die Bibel. Das gemeinsame Lesen des Buches eröffnet der Gemeinde eine Welt voller Weisheit, Moral, Geschichte und Anekdoten. Dieser Gedanke liegt der Gestaltung der neuen Babyn Yar Synagoge zugrunde.
Wir kombinieren diese Idee mit einer anderen Art von Buch, das einen spielerischen Charakter hat: das Pop-up-Buch. Pop-up-Bücher sind magische Bücher, die sich in drei Dimensionen entfalten. Wenn wir solch ein Buch aufschlagen, entfalten sich neue Welten, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. In gewisser Weise, kann das aufklappbare Buch als Metapher für die Synagoge dienen. Außerdem löst das Pop-up-Buch Faszination aus: Niemand kann der Versuchung widerstehen, diese zauberhaften Bücher aufzuschlagen und zu erkunden. Diese Qualität eines "Wunderkabinetts" und eines neuen Universums, das sich entfaltet, wollte ich an dem Ort Babyn Yar schaffen.
Der Standort befindet sich inmitten von Bäumen, gleich hinter einem bereits bestehenden kleinen Denkmal, einer Menora, die aus den frühen 1990er Jahren stammt. Das Gebäude steht auf einer Holzplattform, die leicht über dem Boden schwebt. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, ein tiefes Fundament zu vermeiden, um den vorhandenen Boden nicht zusätzlich zu stören. Das Gebäude selbst ist eine Holzkonstruktion mit einer inneren Stahlkonstruktion. Im geschlossenen Zustand ist das Gebäude ein flaches, vertikales Volumen von etwa 8 Metern Breite, 11 Metern Höhe und einer Dicke von etwas mehr als zwei Metern. Das Gebäude wird von Hand geöffnet und entfaltet sich dann zu dem dreidimensionalen Raum der Synagoge. Der Öffnungsprozess ist ein kollektives Ritual, das von der Gemeinde als manuelle und physische Tätigkeit durchgeführt wird. Der sich entfaltende Raum mit der Bimah (Leseplattform für die Tora) in der Mitte, mit seinen Bänken und dem Balkon, ist dieses neue Universum, das sich durch das gemeinsame Lesen des Buches eröffnet hat.
Das Holz ist altes Eichenholz, das aus allen Teilen der Ukraine stammt. Dies gewährleistet, dass das Gebäude eine vereinende Qualität hat, bis hin zu dem Material, das für seinen Bau verwendet wurde. Das Holz ist mehr als einhundert Jahre alt. Es wird daher eine Verbindung zwischen der Zeit vor dem Massaker und der heutigen Zeit herstellen. Holz ist auch ein ungewöhnliches Material für Gedenkstätten. Es verleiht der Synagoge eine gewisse Zerbrechlichkeit und zwingt uns, sie zu pflegen und zärtlich mit ihr umzugehen. Diese ständige Pflege und Zärtlichkeit ist genau das, worum es beim Erinnern geht.
Die Wände sind mit Gebeten und Segenssprüchen geschmückt, die ein Wiedererwachen feiern. Die wichtigsten Gebete der jüdischen Liturgie, wie das Schma' Israel, das Morgengebet, oder das Kaddisch, sind an die Wände geschrieben. Aber vielleicht noch überraschender sind andere Segenssprüche wie der Segen für die Verwandlung eines Albtraums in einen guten Traum, der an der Hauptwand über dem "Aron ha-Kodesch", dem Ort, an dem die Bibelrollen aufbewahrt werden, angebracht ist. Dieser Segen wurde auf die Wände der historischen Synagoge von Gwozdziec in der Westukraine aus dem 17. Jahrhundert geschrieben und ist ein perfektes Leitmotiv für die neue Synagoge.
Die Decke ist mit einer Vielzahl von Symbolen und Darstellungen bemalt, die auch auf die Innenräume der inzwischen zerstörten historischen Synagogen der Ukraine aus dem 17. und 18 verweisen. Sie zelebriert ein farbenfrohes Universum, das über den Köpfen der Besucher der Synagoge sichtbar werden wird. Aber diese Symbole haben noch eine weitere Bedeutung: Zusammen bilden sie die Sternenkonstellation nach, die in der Nacht des 29. September 1941 über Kiew zu sehen war. Wenn die Besucher in die Decke der neuen Synagoge blicken, stellen sie eine Verbindung zu dem historischen Moment her, an dem das Massaker begann. Zusammen mit den bemalten Wänden erinnert die Synagoge an die Ermordung von Babyn Yar vor 80 Jahren, ist aber auch ein Gebäude, das einen Albtraum in einen guten Traum verwandeln will.
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