Dorf findet Stadt
Dorf findet Stadt
26. de juny 2007
(Foto: Margherita Spiluttini)
Der Grundstein zu den derzeit weltweit über 440 SOS-Kinderdörfern wurde 1949 in der Tiroler Kleinstadt Imst gelegt. Eines der 26 im Jahr 2006 errichteten Projekte ist das erste urbane SOS-Kinderdorfprojekt Österreichs, ein internationales Pionierprojekt, das dem Gründer dieses großen, privaten, konfessionell und politisch unabhängigen Sozialwerkes, Hermann Gmeiner (1919-1986), alle Ehre macht. Die Architekten Christa Prantl und Alexander Runser führen die geglückte Loslösung vom „Dorf" unter Bewahrung der Prinzipien Gmeiners inmitten einer Stadt vor.
In den vergangenen drei Jahren öffneten drei städtische SOS-Kinderdörfer ihre Pforten, ein neuartiges Modell neben dem klassischen Konzept dörflich strukturierter Einrichtungen. Den Anfang machte 2004 Chicago, ein Jahr später eröffnete das SOS-Kinderdorf in Berlin. Im Herbst 2006 folgte Wien und erst hier ist das „Dorf" tatsächlich nicht mehr auszumachen und voll in die Stadt integriert. Das neue Konzept „Los vom Dorf, rein in die Stadt" spiegelt sich förmlich in der Glasfassade des FamilienRAThauses, des Zentrums des Wiener SOS-Kinderdorfes in Floridsdorf/Jedlesee, das folglich vom Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Österreich, Wilfried Vyslozil, knapp als „Los-Haus" bezeichnet wird.
Nach langer, gemeinsamer Suche nach einem geeigneten Grundstück für die ursprünglich favorisierten Reihenhäuser wurden die Architekten letztlich im Bereich eines sozialen Wohnbaus in Floridsdorf fündig. Die kurz vor der Fertigstellung stehende und über Bauträgerwettbewerbe vergebene, insgesamt 600 Mietwohnungen umfassende Wohnhausanlage, mit Gebäuden von Rüdiger Lainer, Margarethe Cufer und Dietrich | Untertrifaller beherbergt nun also die von RUNSER / PRANTL architekten eigens für die speziellen Bedürfnisse der SOS-Kinderdorffamilien adaptierten Wohnungen. Hermann Gmeiners familiennahem Ansatz der Kinderbetreuung, basierend auf vier Prinzipien - Mutter, Geschwister, Haus und Dorf - wird hier wie in allen SOS-Kinderdörfern Rechnung getragen, nur dass das Haus eine Wohnung und das Dorf ein städtisches Wohnareal ist. Um der Haus-, respektive Garten-Idee näherzukommen, wurden nur Erdgeschoßwohnungen mit Grünflächen ausgesucht und die Grundrisse an die Erfordernisse der Kinderdorffamilien angepasst. Hier ist etwa ein eigener Lebensbereich für die Mutter vorgesehen und es steht ein Multifunktionsraum für Gäste oder die Familienhelferin zur Verfügung. Die Einbettung in eine derart große, neue Wohnanlage kann der Integration der Kinder eigentlich nur nützlich sein.
Das fußläufig von der Wohnhausanlage aus erreichbare FamilienRAThaus in der Anton-Bosch-Gasse ist nicht nur die zentrale Anlaufstelle der gesamten Wiener SOS-Kinderstadt, sondern ein klares, fraglos dem städtischen Umfeld entsprechendes architektonisches Statement. Dennoch tritt das fünfstöckige Bauwerk gewissermaßen leise auf. Im Erdgeschoß soll neben dem halböffentlichen Durchgang zum Areal der Familienwohnungen dereinst ein Café Einzug halten. Derzeit noch nicht eingerichtet, wird es als Multifunktionsraum für Veranstaltungen, Ausstellungen und Konzerte genutzt. Wie in den darüber liegenden Obergeschoßen ist der Raum nur durch vier tragende Betonscheiben determiniert. Durch die Trennung der Tragestruktur von der Fassadenkonstruktion wird ein Höchstmaß an Flexibilität der Nutzflächen erreicht. Die Obergeschoße beheimaten - flexibel bespielbar - Kinderhort, Besprechungs- und Gemeinschaftsräume, Büros, Krisenaufnahmewohnung und derzeit ein Mutter-Kind-Zentrum des Jugendamts der Stadt Wien. Darüber hinaus gibt es Therapieeinrichtungen, die im Unterschied zu den vorwiegend durch Glasflächen definierten Räumen uneinsehbar sind. Im Dachgeschoß befindet sich die Wohnung des Dorfleiters.
Präzision in der Anwendung und Ausführung der konstruktionsbedingten Materialien - tragende Stahlbetonwände an den beiden Grundstücksgrenzen und tragende Stahlbetonscheiben, sowie rahmenlose Brandschutzverglasungen in den Erschließungsbereichen - sorgen für höchste Transparenz, lichtdurchflutete Ebenen und eine einfache Orientierung im Gebäude. Zudem liegt dem Baukörper eine exakte Geometrie zu Grunde. Ein Meterraster als elementares Grundmaß vervielfältigt und teilt sich - ganzzahlig, pragmatisch und rational. Harmonie durch Stringenz. Für RUNSER / PRANTL architekten zählen vor allem das Begreifen des Dreidimensionalen, rasch erfassbare, barrierefreie Räume und tages- und jahreszeitgemäße Lichtstimmung zu den einzufordernden Qualitäten und Aufgaben beim Bauen, besonders für Kinder. Ein Anspruch, der weit über dem landläufigen Selbstverständnis kinderfreundlicher Architektur - meist beschränkt auf Waschtische und Handläufe in Kinderhöhe - liegt. (...) Ursula Graf
Den vollständigen Beitrag und weitere Bilder finden Sie in architektur.aktuell, Ausgabe 6.2007
SOS-Kinderdorf Wien
FamilienRAThaus
Wien
Bauherr
SOS-Kinderdorf
Österreich
Planung
RUNSER / PRANTL Architekten
Freiraumplanung
Dipl. Ing. Jakob Fina
Wien
Statik
Dipl. Ing. Oskar Graf
Wien
ZSZ Ingenieure
Innsbruck
Grundstücksfläche
773 m2
Nutzfläche
ca. 2.100 m2
Bebaute Fläche
605 m2
Planungsbeginn
8/2004
Baubeginn
5/2005
Fertigstellung
9/2006
Baukosten
ca. 2,3 Mio EUR
Kosten pro m2
ca. 1.100,- EUR