Elias Baumgarten: Warum sollten junge Leute de Sede-Möbel kaufen? Mir ist nämlich bei der Recherche für unser Gespräch aufgefallen, dass eure Stücke vor allem bei einer älteren Generation sehr beliebt sind, wohingegen sie bei der meinen unter dem Radar fliegen.
Andrew Bryan: Vieles, was wir uns heute kaufen, ist für extrem kurze Lebensspannen ausgelegt – egal ob Kleidung, Elektronik oder eben auch Möbel. Ich finde schlimm, wie viel billig und unter fragwürdigen Bedingungen produziert und nach kurzer Zeit weggeworfen wird. Unsere Stücke dagegen zeichnen sich durch extreme Langlebigkeit aus. Und wenn sie nach Dekaden doch irgendwann etwas ramponiert sind, kann man sie in unserer Werkstatt auffrischen lassen. Spreche ich mit jungen Menschen, habe ich den Eindruck, dass – wahrscheinlich aufgrund der aktuellen Krisen – gerade ein Umdenken stattfindet. Ich bin zuversichtlich, dass Wegwerfmentalität und Konsumdenken Auslaufmodelle sind. Die Bereitschaft, langfristige Anschaffungen zu tätigen und in qualitätsvolle Produkte, die im eigenen Land sorgfältig und verantwortungsvoll hergestellt wurden, Geld zu investieren, wird steigen. Und natürlich: Wir bieten starkes, zeitloses Design.
Eure Kritiker*innen sagen, de Sede-Möbel seien teure Statussymbole ohne Funktion…
Kritik ist sehr wichtig, aber solche Aussagen sind mir fast schon lästig, denn sie stimmen nun einmal einfach nicht. Schon immer hatten unsere Möbel Funktionen, das hat sogar wesentlich zu unserem Erfolg beigetragen. Der Sitzauszug war die erste, später kamen unter anderem Drehsitze und schiebbare Rückenlehnen hinzu. Und auch heute arbeiten unsere Designer*innen mit Eifer und Erfindergeist an neuen Mechanismen.
Du bist seit vielen Jahren Teil des de Sede-Designteams. Als Architekt nimmt mich wunder, wie die Gestaltung eines neuen Möbels eigentlich abläuft.
Unser Designprozess ist komplex, viele Meinungen fliessen ein. Grundsätzlich kannst du drei Szenarien unterscheiden: Oft entwickeln wir ein Anforderungsprofil und schicken es an ausgesuchte Designer*innen. Dabei haben Marketing und Verkauf immer unser Portfolio im Auge: Welches Möbel fehlt noch? Bisweilen treten aber auch Gestalter*innen von sich aus mit neuen Kreationen an uns heran, die wir dann sorgfältig prüfen und im Team durchdiskutieren. Und schliesslich entwickelt unser Designteam natürlich auch eigene Lösungen.
Kann ein Entwurf auf dem Papier überzeugen, wird im nächsten Schritt ein Mockup angefertigt, ein rein visuelles Modell im Massstab 1:1. Denn im Möbeldesign ist wichtig, ein neues Objekt von allen Seiten betrachten zu können. Vielleicht kann man das mit den Modellen vergleichen, die ihr Architekt*innen baut. Hat das Mockup überzeugt, investieren wir viel Zeit und Energie in die Entwicklung des gesamten Erscheinungsbilds. Für uns sind besonders die Nähte, die Lederauswahl und generell ein zeitloses Design Faktoren, uns für neue Skulpturen, wie wir unsere Stücke lieber nennen, zu entscheiden. Dabei gilt es, viele Aspekte zu berücksichtigen: Das Material muss natürlich optimal zur Entwurfsidee passen, und die Nähte sollen die ästhetische Wirkung und den Charakter des Möbels stärken. Zudem achten wir aus Gründen des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit sehr darauf, beim Zuschnitt so wenig Material wie möglich zu verbrauchen. Schliesslich werden Prototypen gebaut und eingehend auf Funktion und Ergonomie getestet. Insgesamt dauert dieser Prozess meist rund sechs Monate; ist eine komplizierte mechanische Sitzauszug- oder Rückenverstellung vorgesehen, kann er sogar über ein Jahr in Anspruch nehmen.
Du sagst, ihr arbeitet häufig mit externen Designer*innen zusammen. Das finde ich spannend. Ist das nicht sehr fordernd?
Jede Gestalterin und jeder Gestalter hat individuelle Stärken und eine eigene Designsprache. Die Zusammenarbeit funktioniert deshalb sehr unterschiedlich. Es gibt Designer*innen wie Antonella Scarpitta oder Mario Bellini, die haben extrem genaue Vorstellungen und einen starken Gestaltungswillen. Ihr Blick für Details und Proportionen ist exzellent, ihre Skizzen zeigen praktisch schon die fertigen Möbel. Andere wiederum bringen in erster Linie eine Idee beziehungsweise ein Konzept, die respektive das wir dann gemeinsam in einem iterativen Prozess ausarbeiten. Übrigens stammen unsere Möbel nicht nur aus der Feder professioneller Produktdesigner*innen – auch mit Architekt*innen, Innenarchitekt*innen und sogar einem Orthopäden haben wir schon gearbeitet. Uns macht der intensive Austausch Freude, gerne bringen wir eigene Vorschläge ein, erklären und zeigen verschiedene Möglichkeiten auf. Wir sichern uns so ein enormes kreatives Potenzial. Ich denke, am Ende profitiert die gesamte Branche von einem gelungenen Endprodukt, das vielseitig einsetzbar ist.
Für jede Firma ist wichtig, dass ihre Produkte unverkennbar sind. Wie bleiben de Sede-Möbel trotz so vieler Autor*innen jederzeit als solche zu erkennen?
Wir achten stets darauf, etwas de Sede-DNA in den Entwurf einzubringen. Das geschieht zum Beispiel, wenn es an die Auswahl der Nähte geht: Wir zeigen externen Designer*innen unser Portfolio an Musternähten und erklären, welche ästhetischen Auswirkungen sie jeweils haben, wie sie den Ausdruck des Möbels verändern. Besonders bei den Nähten nimmt de Sede eine einzigartige Position ein, da diese bei uns samt und sonders von Hand angebracht werden und unsere Polsterer jeder Skulptur damit eine persönliche Note verleihen. Viele unterschätzen, welch grosse ästhetische Relevanz die Naht oder ein spezieller Keder letztlich hat. So ist sichergestellt, dass unsere Expertise einfliesst, was man den Objekten nachher auch ansieht.
Gebäude betreffen stets sehr viele Menschen, dennoch müssen Architekturschaffende vor allem ihre Bauherrschaft für ihre Gestaltungen gewinnen. Möbel hingegen müssen viele Menschen, zu denen man als Designer*in keinen persönlichen Kontakt hat, überzeugen, um erfolgreich zu sein.
Du sprichst einen wichtigen Punkt an: Möbeldesign ist immer eine Gratwanderung, denn eine starke Gestaltung verkauft sich nicht automatisch gut. Wir arbeiten eng mit unseren Verkäufer*innen zusammen. Als guter Möbeldesigner musst du immer auch fragen, was für deine Gestaltung spricht, denn je mehr Argumente, desto lauter das «Wow!» der Kundschaft: Gibt es eine besondere, vielleicht gar überraschende Funktion? Wie gut ist der Komfort, wie ergonomisch ist das Möbel? Zudem muss man heute beachten, dass die Menschen immer mehr die Geschichte hinter einem Möbelstück interessiert. Gutes Storytelling gehört mittlerweile auch zum Design.
Leider bekommt man, entwirft man ein Stück für die Serienproduktion, in der Tat wenig Feedback. Eigentlich erfährst du nur von den Problemen, bekommst mit, wenn unsere Kunden nicht absolut glücklich sind. Bei Sonderanfertigungen sieht die Welt ganz anders aus: Die Kundschaft ist direkt in die kreative Entstehung miteinbezogen, sagt, was sie möchte und was eben nicht. Das Feedback folgt hier unmittelbar, aber auch später bekommst du noch Anerkennung, wenn die Gestaltung gelungen ist. Mir macht das auch nach 34 Jahren bei de Sede noch grossen Spass.
Wir haben nun viel über die Zusammenarbeit mit anderen Designer*innen gesprochen, bei der du Coach, Berater und Kritiker bist. Fast zu kurz gekommen ist darüber, dass du auch selber für de Sede entwirfst. Was inspiriert dich?
Viele Architekt*innen in meinem Freundeskreis sagen, dass sie in der Kunst, der Architekturtheorie und -geschichte, aber auch der Natur Inspiration finden. Für mich ist erst einmal wichtig, dass Design aus dem Bedürfnis entsteht, etwas Neues zu schaffen. In der Natur, aber auch im Alltag entdecke ich immer wieder Details, die mich inspirieren. Ich präge mir das Gesehene ein, führe eine regelrechte Bibliothek vor meinem geistigen Auge, und kombiniere es später in meinen Entwürfen neu.
Wenn ich meine Ideen mit anderen diskutiere, bergen «Missverständnisse» ein grosses kreatives Potenzial. Denn jede Erklärung, jede Zeichnung bietet einen kritischen Interpretationsspielraum.
Hast du ein Erfolgsrezept für gute Entwürfe?
Rezept tönt mir zu sehr nach Kochbuch. Jede Entwurfsaufgabe erfordert eine spezifische Herangehensweise. Aber häufig ist mein Ansatz «Design by Elimination»: Ich versuche konsequent, alles Überflüssige und von vornherein Auszuschliessende wegzulassen. Hier spielt natürlich auch die langjährige Erfahrung mit der Materie, mit den Materialien und Polstertechniken eine grosse Rolle. Oft können wir einzelne Optionen bereits ausschliessen, bevor das Mockup überhaupt entsteht, weil diese schlicht nicht umsetzbar sind.
Zum Schluss unseres Gesprächs möchte ich auf das Besondere an de Sede zurückkommen. Ihr seid eine Traditionsfirma und beherrscht althergebrachte Handwerkstechniken, die sonst allmählich in Vergessenheit geraten, in Perfektion. Inwiefern könnt ihr da davon profitieren, dass alte Produkte und Gestaltungen wieder als schick gelten, ja mitunter neue Begeisterung entfachen?
Tatsächlich hat de Sede eine lange Geschichte, auf die wir sehr stolz sind: Wir haben an unserem Sitz in Klingnau sogar eigenes ein kleines Museum eingerichtet, unsere «Timeline». In unserem Archiv schlummern Zeichnungen all unserer Klassiker auf Pergamentpapier, alle alten Modelle sind sehr gut dokumentiert. Wir sind auch heute noch in der Lage, ältere Modelle mit diesen Unterlagen nachzubauen. Und tatsächlich bringen wir regelmässig überarbeitete Versionen unserer Klassiker heraus. Wir machen das nicht nur, weil ihr ausdrucksstarkes Design nichts von seiner Aktualität und Anziehungskraft verloren hat, sondern auch weil wir unsere handwerkliche Expertise pflegen und präsentieren möchten. Denn schliesslich machen die Handwerkstechniken unseres Teams und insbesondere unserer Polsterer die persönliche Note jedes de Sede-Möbels aus. Derzeit diskutieren wir eifrig, mit welchem Schatz wir unser 55-jähriges Firmenjubiläum feiern werden.