Nicht Möbel, sondern Skulpturen nennt de Sede seine Stücke. Das ist ungewöhnlich, hat aber, wie uns ein Blick hinter die Kulissen zeigt, gute Gründe. Den Begriff Skulptur erwarten wir eher im Kunstkontext, weniger im Designumfeld. Gemeinhin bezeichnet man damit ein dreidimensionales, körperhaftes Objekt. In der Kunst ist zudem die Idee des Unikats prägend. Doch wie kommt ein Möbel zu dieser Ehre? Im Betrieb von de Sede zeigen sich die eben genannten Aspekte sowohl in der Vorstufe der Verarbeitung, bei der Auswahl des Leders, als auch in der Fertigung der Objekte. Und schliesslich tritt das Skulpturale auch beim Design der Möbelstücke selbst klar in Erscheinung, so etwa beim Modell «DS-266» von Stefan Heiliger, das Anfang 2020 an der Möbelmesse von Köln präsentiert wurde. Kaum zufällig ist der deutsche Designer Sohn des Bildhauers Bernhard Heiliger (1915–1995) – von Skulpturen versteht er viel. Aber was rechtfertigt die besondere Bezeichnung bei den anderen Sitzmöbeln aus dem Hause de Sede? Begeben wir uns auf die Suche nach Antworten auf diese Frage. Hilfreich dabei ist, sich zunächst der Materia prima der Möbelskulpturen zuzuwenden: dem Leder. Denn immerhin bestehen daraus 90 Prozent der de Sede-Skulpturen. Das Lederfachwissen bildet quasi die Wurzel des Handwerksbetriebs.
Leder ist ein Naturprodukt, das alle Sinne anspricht. Dass es von Tieren stammt, wird häufig ausgeblendet. Diesem Umstand sollte man aber schon nur aus ethischen Gründen Beachtung schenken. Zu Recht stellen heute Konsument*innen vermehrt Fragen zur Herkunft, Nachhaltigkeit und Verarbeitung. In Europa werden jährlich rund 400 Millionen Rinder geschlachtet, wobei ihre Häute häufig achtlos weggeworfen werden. Früher hingegen war das Verwenden von Tierhäuten selbstverständlich. Man kennt ihre Veredelung zu Leder, das Gerben, bereits aus der Altsteinzeit. Das Handwerk ist komplex und hat sich im Laufe der Zeit verändert. Heute wird meistens mit Chrom-III gegerbt, was hinsichtlich der Konservierung und der Lichtechtheit die beste Lösung ist. Doch der Produktionsprozess muss wegen den nicht ungefährlichen Gerbungssubstanzen genau unter die Lupe genommen werden, weswegen die Ledertechniker von de Sede die Gerbereien regelmässig besuchen. Die Möbelmanufaktur arbeitet mit italienischen Betrieben zusammen.
Nicht alle Häute eignen sich gleichermassen für Möbel, sie müssen dafür bestimmte Kriterien erfüllen. Zu de Sede gelangen nur grosse Stücke von bester Qualität, die aus Europa, insbesondere aus Süddeutschland, Skandinavien und der Schweiz selbst stammen. Die sorgfältige Auswahl schliesst auch Aspekte des Tierwohls mit ein. Das Sortieren und Kontrollieren des Leders erfordert einen grossen Wissensschatz und ein geschultes Auge, es ist eine Kunst für sich, denn je nach Modell werden andere Häute verwendet. Nicht nur der Entwurf, auch einzelne Stellen der Skulpturen verlangen nach einer unterschiedlichen Struktur und Optik des Leders. Unregelmässigkeiten machen allerdings die Schönheit der Stücke mit aus. Keine Skulptur gleicht der anderen, jede ist ein charakterstarkes Einzelstück. Eine Besonderheit bei de Sede ist das Verwenden von Neck-Leder, das zwischen 4,5 und 5 Millimeter dick ist. Es zeichnet sich durch hohe Stabilität aus und ist deswegen besonders langlebig. Dieses Leder ist nur für ganz bestimmte Skulpturen geeignet – etwa für das «DS-47», welches 1976 lanciert wurde. Bei jeder Skulptur besteht die grosse Kunst darin, das Leder so einzusetzen, dass eine feine Balance zwischen Entwurf und Material entsteht. Am Ende dieses Arbeitsschritts werden die Häute signiert und sind bereit zur Weiterverarbeitung.
Schon das Anbringen der Schablonen ist zentral, denn durch das geschickte Platzieren soll möglichst wenig Verschnitt entstehen. Eine Lasermaschine schneidet die Haut zu, für besondere Partien an der Skulptur erfolgt der Zuschnitt indes auch heute noch manuell. Zwischenkontrollen gewährleisten eine durchgehende sehr hohe Qualität des Herstellungsprozesses. So wird das Leder etwa im Labor verschiedenen Tests unterzogen; dabei werden Stichproben zu Abrieb oder Lichtechtheit durchgeführt. Inhouse verarbeitet werden auch kleine Lederteile, dazu gehört das Herstellen der Keder aus dünnen Streifen, die bei vielen Modellen zum Einsatz kommen. de Sede hat sogar eine eigene Maschine zur Herstellung von Endloskeder entwickelt. Auch in der Näherei zeigt sich die enorme Sorgfalt, mit der jedes noch so kleine Detail verarbeitet wird. Alle Teilstücke der Lederhülle werden mit einem Reissverschluss versehen. Dabei wird jede Kammer einzeln aufgefüllt; das ist zwar aufwendig, aber auch besonders nachhaltig, da die Kammern später bei Bedarf neu gefüllt werden können. Das Nähen von Leder ist keine einfache Sache, es braucht dabei jede Menge Geschick und sehr viel Erfahrung.
Bei der Vormontage des Basisgestells wird umweltfreundlicher Leim verwendet, um das Holz und die Schaumstoffteile zu verbinden. Der letzte Schritt ist schliesslich das Polstern, ein sehr aufwendiges Handwerk, das viel Kraft und zugleich Fingerspitzengefühl erfordert. Die Polstermeister von de Sede kennen die Modelle in und auswendig, jeder Griff ist tausendfach geübt; viele Handwerker arbeiten schon seit Jahrzehnten in der Manufaktur. Auch neuen Herausforderungen stellen sie sich mit grossem Enthusiasmus. Die Polsterer haben einen grossen Einfluss auf den Nahtverlauf, der den Ausdruck einer jeden Skulptur wesentlich prägt. Hier zeigt sich auch der Charakter des einzelnen Entwurfs am deutlichsten. Am Ende eines langen Herstellungsprozesses steht ein handgefertigter Gegenstand, der mit Fug und Recht Skulptur genannt werden darf.