In der Generation, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, war es noch üblich, Mahlzeiten aus Resten zuzubereiten. Mit dem Aufkommen von Fastfood und der voranschreitenden Globalisierung ging diese Praxis in den industrialisierten Ländern weitgehend verloren. Was das mit Architektur zu tun hat, mögen sich nun einige fragen. Der Respekt gegenüber Ressourcen, egal ob sie nun in einem Gericht oder einem Bauwerk landen, ist mit gesellschaftlichen Werten verknüpft. Angesichts der Klimakrise ist er allerdings mehr als eine Haltungsfrage: Dieser Respekt ist (oder wäre) schlicht eine Notwendigkeit. Doch gerade den Bausektor, der immerhin für rund 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich ist, scheint das (noch zu) wenig zu kümmern. Die Bedrohung von Habitaten besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen ist nicht nur in den Gebieten zu spüren, in denen die Folgen des Klimawandels schon jetzt unmittelbar manifest sind, auch in Europa zeitigt das zunehmende Verschwinden von bezahlbarem Wohnraum seine Konsequenzen. Das ist gerade in Venedig, dem Austragungsort der Biennale, besonders ausgeprägt der Fall. Dazu trägt nicht zuletzt – aber nicht nur – der Biennale-Tourismus bei.
Die schottisch-ghanaische Architektin und Schriftstellerin Lesley Lokko, die die 18. Architekturbiennale kuratiert hat, adressiert mit ihrem Motto «The Laboratory of the Future» neben dem Hauptfokus auf dem Kontinent Afrika und der afrikanischen Diaspora unter anderem auch Themen, die mit dem Einfluss des Biennale-Events auf die Bevölkerung Venedigs einhergehen. Auch was rein materialtechnische Fragen betrifft, war ihr Briefing klar. Die sonst übliche Materialschlacht wurde auf ein Minimum reduziert, etwa, indem man grosse Teile der Szenografie der letztjährigen Kunstbiennale wiederverwendete. Ebenso wurden die geladenen Teilnehmer*innen dazu aufgefordert, ressourcenschonend zu denken, also keine Megainstallationen zu produzieren und wenn möglich bereits bestehende Projekte zu zeigen.
Diesen Ansatz hat der Deutsche Pavillon mit «Open for Maintenance – wegen Umbau geöffnet» besonders radikal umgesetzt: Der Pavillon ist, grob zusammengefasst, ein Materialdepot und ein Ort der Transformation von Materie. Was Besucher*innen dort zu sehen bekommen, ist etwas zwischen Baustelle, Werkstatt und Akkumulation von Materie. A prima vista. Denn es geht um mehr als das Sehen.
«Open for Maintenance» sei keine Ausstellung, sondern ein Handlungsansatz, hiess es an der Pressekonferenz. Das klingt zunächst sehr neumodisch, weil ja heute alles kollektiv, «caring», prozessorientiert und inklusiv sein sollte. Aber dass sich solche Themen derzeit so stark in den Vordergrund drängen (Achtung, die Wortwahl indiziert eine Bedrohung), ist legitim. Im konkreten Fall bedeutet es eben nicht einfach das Würzen von Architektur mit moralischer Sülze. Das Projekt ist vielleicht eher so etwas wie der Abgesang an das Ausstellen von «Architektur» – insbesondere im Rahmen eines solch gigantischen Formats wie der Architekturbiennale.
Diese antizipierte Abschiedsszenerie mag vielleicht traurig stimmen und viele Vertreter*innen der Architekturgilde enttäuschen. Abschiede sind aber auch Neuanfänge, und einen rekalibrierenden Prozess anzustossen, ist auch das Ziel dieses Projekts. Die vielen Aktivitäten, die zum Programm des Deutschen Pavillons gehören, sind eine Aufforderung, über Sinn und Unsinn eines derartigen Ausstellungsbetriebs nachzudenken und sich darüber auch mit der lokalen Bevölkerung auszutauschen. Nichtsdestotrotz stellt der Pavillon auch ganz allgemeine Fragen zur Debatte, die das Recht auf Stadt und Wohnraum betreffen.
Der Deutsche Pavillon macht dabei nicht den Fehler, in einen dystopischen Sound einzustimmen. Er führt alternative Formen einer Erzählung vor, die durchaus architektonische Fragen betrifft, etwa die freie Nutzung des öffentlichen Raums, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Weigerung, konkrete Bauprojekte zu präsentieren, zieht sich interessanterweise wie ein roter Faden durch die diesjährige Biennale. Das heisst aber nicht, dass Architektur per se keine Zukunft hat und nicht diskutiert werden soll, im Gegenteil. Wofür, wenn nicht für Fragen, sollen Biennalen wie die von Venedig sonst gut sein?
Etwas bemüht wirken die Materialstapel zunächst schon, und man sieht dergleichen auch nicht zum ersten Mal. Aber es geht dem kuratorischen Team, bestehend aus der Zeitschrift ARCH+, Summacumfemmer und dem Büro Juliane Greb, nicht darum, einfach Material auszustellen, sondern es auch aktiv einzusetzen. Deswegen gehört eine Werkstatt ebenso zum Kernstück des Konzepts. Die Idee der «Maintenance» (Instandhaltung, Wartung, Pflege) wird von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet und nicht nur aus der baulichen Warte abgehandelt. Im Zentrum stehen soziale und sozialökologische Anliegen und Themen, etwa die Wartung der Stadt Venedig durch weitgehend unsichtbare Arbeiter*innen.
Das kuratorische Team des Pavillons hat im Vorfeld der Biennale, also schon im Sommer vorigen Jahres, mit 40 Kurator*innen und Künstler*innen Kontakt aufgenommen und sich nach der Möglichkeit erkundigt, schon vorhandenes Material wiederzuverwenden. Dieses wurde dann abgeholt, sortiert, katalogisiert und zwischengelagert. Nach Abschluss der Kunstbiennale wurde auch das Material der letztjährigen Installation im Deutschen Pavillon – «Relocating a Structure» der Künstlerin Maria Eichhorn – dort behalten. Diese Wiederverwendung ist insofern sinnvoll, als das aktuelle Team eng an Eichhorns Untersuchung der verschiedenen baulichen Eingriffe in den Pavillon anknüpft.
Erstmals geschieht damit zwischen Kunst- und Architekturbiennale eine sowohl inhaltliche als auch räumliche Verbindung. Dass Architekturausstellungen zuweilen wie Kunstdarbietungen daherkommen, ist kein neuer Trend, aber man kann sagen, dass dieser sich verstärkt hat. Auch Hashim Sarkis lud 2021 eine Vielzahl von Vertreter*innen anderer Disziplinen an seine Biennale ein. Ganz ehrlich: Wer will schon bloss wegen Modellen und Plänen von Kolleg*innen in die Lagunenstadt reisen? Die Biennale ist ja auch eine Plattform für Austausch, und es wäre merkwürdig, wenn man einen solchen Anlass nicht auch dazu nutzen würde, um den Diskurs zu erweitern und zu erneuern. Architektur ist eine dynamische Disziplin, heute werden keine Amphitheater mehr gebaut. Obschon: manchmal vielleicht doch …
Eine wichtige räumliche Intervention am Pavillon selbst war das Erstellen einer Rampe, die den Zugang zum Beispiel für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen erleichtern soll. Der 1938 erfolgte Umbau des Deutschen Pavillons sei Träger einer Architekturideologie, die von Überlegenheit, Herrschafts- und Machtanspruch künde. Alle, die nicht der Norm entsprechen würden, seien ausgeschlossen, heisst es dazu in der Medienmitteilung. Das habe man korrigieren wollen. Die neue Erschliessungsrampe führt zu einem Podium, das während der Eröffnung zur Bühne für die mixed-abled Forward Dance Company aus Leipzig wurde. Den Reaktionen des Publikums nach zu schliessen, betrachten es viele Menschen als Zumutung, nicht der Norm entsprechende Körper in Aktion zu sehen. Die Selbstverständlichkeit und die Kraft, welche die Performenden ausstrahlten, zeigten, dass auch sie in die Mitte der Gesellschaft gehören wollen und sich dieses Recht mit vollem Körpereinsatz erkämpfen. Das als Zurschaustellung zu taxieren, ist schon beinahe zynisch. Es muss diesbezüglich noch viel geschehen, und eine solche symbolische Geste kann durchaus ein Signal sein. Das Performance-Programm «performing architecture» entstand in Kollaboration mit dem Goethe-Institut und fokussiert auf die Schnittstelle zwischen performativen Künsten und Architektur.
Ein weiterer wichtiger Pfeiler von «Open for Maintenance» ist die Vernetzung mit lokalen zivilgesellschaftlichen Initiativen; dazu gehören etwa die Assemblea Sociale per la Casa (ASC), die auf die zunehmende Touristifizierung der Stadt reagiert, oder die beiden Zentren Centro Sociale Rivolta und Laboratorio Occupato Morion, die auf politische und kulturelle Arbeit fokussieren. Das Laboratorio organisierte zudem statt einer exklusiven Party anlässlich der Biennale-Eröffnung ein Nachbarschaftsfest in einer ehemaligen Arbeitersiedlung auf der Insel Giudecca. An einem Fest kann eine Annäherung zwischen sonst getrennten Welten vielleicht am ehesten stattfinden. Die Feier stand lange auf der Kippe, ein Umstand, der zeigt, wie neuartig dieser Vorstoss war.
Wie viel von all diesen Workshops und Interventionen hängen bleiben und längerfristig eine Linderung der Probleme der Venezianer*innen bringen wird, lässt sich zurzeit schwer sagen. Aber für einmal die Sichtweise der «anderen» einzunehmen, kann nicht ganz verkehrt sein. Auch wenn solche Bemühungen schwierig zu quantifizieren sind.