Die 18. Architekturbiennale von Venedig mit Ausstellungen in den Giardini (Länderpavillons) und dem Arsenale (thematische Ausstellung und weitere Länderpavillons) dauert noch bis zum 26. November 2023. Zur Eröffnungswoche im Mai reiste unsere Redaktorin Susanna Koeberle mit der italienischen Fotografin Flavia Rossi in die Lagunenstadt. Zur Berichterstattung
Wenn sie keine Leistungsschau mehr ist, welche Zukunft gibt es dann für die Biennale Architettura in Venedig? «The Laboratory of the future», wie die diesjährige Chefkuratorin Lesley Lokko das Motto gesetzt hat, arbeitet mit eingehenden Analysen der Gegenwart, von globalen Lieferketten bis zu indigenen Techniken für Landwirtschaft und Siedlungsbau.
Es gibt an der 18. Architekturbiennale mehr Forschungsfragen als Projektentwürfe – so viele Fragen über Fragen, dass die spärlichen Antworten in den meisten Fällen als unzureichend abfallen. Beim Betrachten bleibt oft offen, wie sich die vielen Überlegungen auf das Handeln auswirken: Wird in Zukunft anders gebaut? Oder einfach weniger, langsamer? Oder etwa gar nicht?
Aus vielen der konzeptuellen, oft kopflastigen Beiträge in Arsenale und Giardini lässt sich der Wunsch ablesen, dass in der Bauwirtschaft in Zukunft anders – umsichtiger, sparsamer, nachhaltiger – geplant werde.
Lokkos Biennale macht einen ruhigeren Eindruck als viele ihrer Vorgängerinnen. Es ist eine nachdenkliche Schau voller grundsätzlicher ökologischer und ethischer Überlegungen. Wie eine generationengerechte Architektur schliesslich funktionieren kann, bleibt allerdings unklar.
Die Biennale versteht sich in vielen der Beiträge als Appell zum Innehalten und nur vereinzelt als Handlungsanweisung. Dies ist gut gemeint. Ob es die Zukunft der Grossveranstaltung rechtfertigen kann, darf gefragt werden.
Dass Flugreisen und Grosstransporte nach Venedig einer nachhaltigen Lebensweise im Weg stehen, ist offensichtlich. So werden die Daten von Menschen und Waren, die zur Architekturbiennale anreisen, von der Organisation jedes Jahr genauer erfasst und ausgewertet. Der Trend geht eindeutig weg von schweren Skulpturen zu Filmleinwänden, von überfüllten Hallen zu etwas mehr Luft und Leerraum, der eben auch Raum für tiefergehende Überlegungen bietet – so gehen Nachdenklichkeit und Materialersparnis auch aus kuratorischer Sicht Hand in Hand.
Dies darf nicht missverstanden werden: Die Nachdenklichkeit der diesjährigen Biennale ist nicht bescheiden, sondern durchaus einer gedanklichen Wucht geschuldet. Im Arsenale, wo die Voiceovers der vielen Filmprojektionen im Vergleich mit den Vorjahren weniger konkurrenzieren und wo auch die optischen Reize eine gewisse Langsamkeit in sich tragen, gibt es eine Nachdenklichkeit und Besonnenheit: Es ist eine Ruhe der Gedanken, die inmitten der komplizierten planetarischen Gemengelage präzise sein möchte, dabei aber mit tiefschürfenden Überlegungen beunruhigt. Die hier repräsentierte Welt ist geprägt von Macht, Gewalt und gewollter Umweltzerstörung. Schöne Architektur gibt es hier wenig.
Während einige der Länderbeiträge auch dieses Jahr wieder gefällig, effekthascherisch oder sogar naiv daherkommen, fügen sich die Beiträge in den Arsenale-Hallen zu einer beeindruckenden Gesamtheit. Sie zeigen mitunter Abgründe der Ausbeutung, etwa am Beispiel der Gewinnung von metallischen Rohstoffen in den afrikanischen Minen der Xholobeni Yards für die Prestigebauten der New Yorker Hudson Yards, dokumentiert von Andrés Jaque und seinem Office for Political Innovation in Zusammenarbeit mit südafrikanischen Aktivisten.
Eindrücklich und schockierend ist auch Alison Killings datenbasierte Analyse der chinesischen Internierungslager für die Uiguren. Killings grossformatige Dokumentation zeigen Lesley Lokko und ihr Team im thematischen Abschnitt mit dem sprechenden Titel «Dangerous Liaisons». Hier sind auch die zwei Schweizer Beiträge im Arsenale zu finden: das laboratoire d’architecture aus Genf mit einer Installation und Filmdokumentation und Ursula Biemann aus Zürich mit dokufiktionalen Filmen. (Weitere solche Werke von Ursula Biemann sind übrigens in der sehenswerten Ausstellung «Everybody talks about the weather» in der Fondazione Prada zu sehen.)
Der kuratierte Teil der Biennale, verteilt über Arsenale und Giardini, ist ergänzt mit Projekten zu den Themen Landschaft, Gender, Erinnerung und Zukunft. Unter dem grossen Dach des Arsenale beispielsweise zieht die aus Dublin, Boston und Zürich operierende BothAnd Group in «The Landscape Rehearsals» Parallelen zwischen indigenen Praktiken der Landbewirtschaftung in Nigeria und Westirland. Historisch betrachtet, so zeigt es die BothAnd Group, war Irland einst ein koloniales Labor des britischen Königreichs, das die dort erprobten Strategien dann auch auf andere Kolonien wie Nigeria anwandte. So spannt die Recherche Brücken zwischen Europa und Afrika – in beide Richtungen.
Die Achse Afrika–Europa, genauso wie Afrika–Amerika, ist an der 18. Ausgabe der Architekturbiennale omnipräsent. Zum ersten Mal erhalten afrikanische Architektinnen und Architekten viel Aufmerksamkeit – und so richtig viel: Unter den präsentierten Architekturschaffenden sind viele Junge und Newcomer, aber auch der ghanaisch-britische David Adjaye und der burkinisch-deutsche Diébédo Francis Kéré, die beiden grossen Stars der Szene.
Adjaye, der sich in seiner erfolgreichen Karriere vielerlei Facetten des Starkults mit allen Höhen und Tiefen zu Eigen gemacht hat, glänzt mit einer grossen Werkschau mit Präsentationsmodellen in Holz. Gemäss Oliver Wainwright im Guardian sei dies ein Lichtblick, weil endlich Architekturmodelle zu sehen seien, so schrieb der britische Kritiker – allerdings vor der Bekanntmachung laufender Verfahren gegen Adjaye, der nun von ehemaligen Mitarbeiterinnen des Machtmissbrauchs beschuldigt wird.
Kéré dagegen baut in unmittelbarer Nähe der geschliffenen Werkschau im Zentralpavillon in den Giardini einen 1:1-Raum aus Lehm und Stroh und schreibt dazu gross auf die geschwungene Mauer: «Nous faisons une vision et non une retrospective». Wir machen eine Vision, keine Retrospektive.
Wir machen. Was der Pritzkerpreisträger Kéré zeigt, meint: Handeln ist möglich, die Vision ist greifbar. Neben Adjayes polierter Retrospektive wirkt Kérés Intervention bescheiden und ist trotzdem eine Wucht. In einer wunderbaren Einfachheit, auch Farbigkeit, Gemütlichkeit und Geborgenheit, lautet hier die Nachricht: Yes, we can.
Greifbar nah wäre auch das Wohnquartier Sant’Elena hinter den Mauern der Giardini. Doch seit 1952 ist das Parkgelände zentraler Teil der traditionsreichen Biennale der internationalen Kunstszene, seit 1991 stellen auch die Architekturschaffenden hier aus. Das infolge der Biennale nur mit Ticket zugängliche Gebiet dehnte sich auch andernorts aus, seit 1980 sind die grossen Hallen des Arsenale ebenfalls Teil des Ausstellungsgeländes und für die Einheimischen nicht mehr nutzbar.
Diese Landnahme der internationalen Ausstellungseliten thematisiert der österreichische Beitrag, der wie viele andere keine Werkschau oder skulpturale Eingriffe vorführt, sondern Grundsatzfragen stellt. Unter dem Titel «Participazione/ Beteiligung» wollte das junge österreichische Aktivistenkollektiv AKT zusammen mit Hermann Czech die Hälfte des österreichischen Länderpavillons für die umliegenden Wohnquartiere öffnen. Die Idee scheiterte: Weder ein Durchbruch durch die Mauer um die Giardini noch eine Brücke über die Abgrenzung wurde bewilligt.
Und trotzdem ist dieser Beitrag einer der stärksten unter den Länderpavillons: Die unfertig belassene Baustelle und der eindrücklich dokumentierte Prozess dieser grenzüberschreitenden Idee zeigen Sprengkraft: Die Begleitveranstaltung finden sinngemäss ausserhalb der Giardini-Mauern im Wohnquartier statt.
Wörtlich rückgebaut wurde mit dem Beitrag «Neighbours» eine Mauer im Schweizer Länderpavillon von Bruno Giacometti, wie Susanna Koeberle genauer beschrieben hat. Ist dies nun ein Erfolg der Schweizer Diplomatie? Nicht wirklich, denn diplomatische Kontakte zwischen der Schweiz und Venezuela gab es keine, und folglich auch keine Kooperation.
Dass schliesslich nicht nur das Gitter in der von Giacometti und Scarpa dialogisch als Durchblick ausgelegte Öffnung, sondern ein Mauerstück daneben entfernt wurde, ist dem Lauf der Geschichte geschuldet. Allerdings gehen weder die begleitende Publikation noch die Erklärungen vor Ort darauf ein, dass hier keine Rekonstruktion durchgeführt wurde. Warum kein Klartext, warum verhält sich die Kunst so schweizerisch diskret, während die Fakten so offen auf dem Tisch (und auf dem im Skulpturensaal ausgelegten Teppich) liegen?
Nicht nur im Schweizer Pavillon wurde nichts Neues aufgebaut. Statt monumentaler Modelle wie an früheren Architekturbiennalen gibt es dieses Jahr vielerlei absichtliche Lücken und Leeren, dazu massenweise Anhäufungen von Materialien. Mehrere der Pavillons gebären sich als Warenlager, das bereits wieder auf den Abtransport wartet.
Für seine Einblicke in das Bauen mit Lehm wurde der brasilianische Länderpavillon mit dem «Goldenen Löwen» ausgezeichnet, im deutschen Pavillon finden die Besucher ein pedantisch geordnetes Baumaterial-Inventar der letztjährigen Kunstbiennale, die USA widmen sich dem Plastik (Achtung, hier stinkt es nach verbranntem Styropor), Skandinavien beigt Altholz und Felle auf (auch hier aufgepasst: geruchlich kritische Zone) und Japan destilliert Gerüche aus den Naturmaterialien der Umgebung (aufatmen, einatmen, die Sinne dürfen wieder aktiviert werden).
Der israelische Pavillon wiederum wurde versiegelt. Geräusche dringen aus den Wänden: das Rauschen eines Datacenters. Diesem Thema widmet sich dann auch die Begleitpublikation mit dem poetischen Titel «cloud-to-ground». Wie das Buch zur Schweizer Schau «Neighbours» ist auch das Buch zu Israels bemerkenswertem Beitrag «cloud-to-ground» bei Park Books erschienen.
Materialbeigen, leere Räume, Leitungen und Baustellen: Die 18. Architekturbiennale sucht keine Glanzleistungen, sondern will grundsätzliche Fragen stellen. Dabei allerdings zeigt sich das Umweltbewusstsein der Architektinnen und Architekten oftmals als schlechtes Gewissen – als ob man sich schäme, weiterhin Baumaterial zu verbrauchen. Sogar: Als ob man sich entschuldigen wolle, überhaupt an der Biennale mitzumachen.
Auch diese Frage wirft die 18. Ausgabe des internationalen Grossanlasses auf. Es darf gehofft werden, dass die Antworten so besonnen und präzise ausfallen werden wie die Überlegungen von Lesley Lokko und ihrem Team im «Laboratory of the future».
Sabine von Fischer, Architektin und Autorin in Zürich, hat im Rahmen des Programms «Radio Utopia» (kuratiert von Carlotta Dáro und Nicolas Tixier) in Frankreichs Länderpavillon an der 18. Architekturbiennale teilgenommen. Das live gesendete Radioprogramm wird ab September online abrufbar sein. Ihr Buch «Architektur kann mehr. Von Gemeinschaft fördern bis Klimawandel entschleunigen» erscheint im Oktober im Birkhäuser Verlag.