Was ich in Venedig gelernt habe: Dass ich nichts über Afrika weiss. Oder zumindest zu wenig. Und damit bin ich wohl nicht allein. Genau in dieser Überforderung liegt allerdings auch das «Problem» der diesjährigen Biennale – wobei man Probleme stets auch als Chance verstehen kann. Mit «The Laboratory of the Future» richtet Kuratorin Lesley Lokko den Fokus erstmals auf Afrika und die afrikanische Diaspora. Nun ist es ja nicht so, dass dort nie gebaut wurde und nicht gebaut wird, nur wurde im eurozentrischen Denken dieses Bauen nie wahrgenommen und schon gar nicht an unseren Schulen gelehrt.
Lokko möchte die Geschichte der Architektur aus einer anderen Perspektive erzählen. Die alte Geschichte sei nicht falsch, aber unvollständig, sagt sie. Doch wie will man in einer Ausstellung eine Geschichte vermitteln, deren Grundmaterial, also im übertragenen Sinne ihre Worte, in der Wahrnehmung der Adressaten gar nicht existiert? Lokko kann dieses Dilemma nicht lösen, sie kann nur eine Bewegung anstossen, die schon längst fällig war. Ein Labor erhebt auch nicht den Anspruch darauf, pfannenfertige Lösungen zu präsentieren.
Auf die eigenen blinden Flecken Afrika und sein koloniales Erbe betreffend zurückgeworfen zu werden, ist unangenehm, und es ist wohl das, was viele Besucher*innen als verwirrend empfinden. Sollte man deswegen darauf verzichten, die Geschichte neu zu erzählen? Auf keinen Fall! Doch es wird wohl noch einige Anläufe brauchen, bis die von Lesley Lokko geforderte Veränderung eintrifft. Es bedürfe dafür stets zweier Seiten, betonte die Kuratorin an der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der Biennale.
Veränderung ist ein Prozess, und ein solcher braucht definitionsgemäss Zeit. Diese Zeit sollte man sich auch als Besucher*in nehmen, denn mal eben schnell kann man die im Hauptpavillon der Giardini und im Arsenale dargebotenen Inhalte nicht konsumieren. Dass Saaltexte zu einer Biennale gehören, ist nichts Ungewöhnliches, aber diesmal schien es, als müsse man genauer hinschauen. Vielleicht lag es auch bloss an der Länge der Texte, der unvorteilhaften Beleuchtung oder an der zu kleinen Schriftgrösse. Zeit also, sich einem Film zu widmen, dachte ich mir. Fast ein Drittel der 89 Beiträge besteht aus Filmen oder nutzt dieses Medium. Das hängt damit zusammen, dass das Briefing der Kuratorin unter anderem darin bestand, möglichst ressourcenschonende Formate zu nutzen. Zudem versuchte man, möglichst viele Teile der Szenografie der letztjährigen Kunstbiennale wiederzuverwenden sowie die Teilnehmenden dazu anzuregen, umweltfreundliches Material einzusetzen.
Um ins Thema einzusteigen, beschloss ich am ersten Previewtag, mir den Dokumentarfilm «Black Artist Retreat. Reflections on 10 years of Convening» (2023) von Theaster Gates anzusehen, der erstmals an dieser Architekturbiennale gezeigt wird. Der US-amerikanische Konzeptkünstler ist einer der wenigen «grossen» Namen – neben Francis Kéré oder Sir David Adjaye vielleicht –, die Lokko eingeladen hat, was eine mutige Entscheidung ist. Die Kehrseite davon ist, dass die jungen und kleinen Büros wohl auch weniger Budget als die Stararchitekten haben. Das hat sich teilweise auf die Qualität der Präsentationen niedergeschlagen.
Doch zurück zum Film, der die Zusammenkünfte dokumentiert, die Gates in den letzten zehn Jahren fast jährlich für schwarze Künstler*innen veranstaltet hat. Das 2013 in Chicago ins Leben gerufene Programm hat sich seitdem ausgeweitet und fand unter anderem 2022 in der Black Chapel des Serpentine Pavilion in London statt. Viele Besucher*innen, mit denen ich nach der Eröffnung sprach, schauten sich knappe fünf Minuten des fast einstündigen Films an. Das reicht allerdings nicht aus, um zu verstehen, was diesen Film so besonders macht und weshalb er an dieser Biennale gezeigt wird.
Räume schaffen die Möglichkeit einer Zusammenkunft von Menschen, die sich dennoch nicht primär als «Black Artist» definieren. Viele wollen einfach Künstler*innen sein und sich nicht durch ihre Herkunft – wobei auch das ein ambivalenter Begriff ist – definieren. Dennoch zeigt sich im Film, dass diese Menschen bestimmte Wunden teilen. Zusammen zu singen oder zu tanzen und sich an einem sicheren Ort auszutauschen, ist eine Möglichkeit, diese zu heilen. Doch auch das Publikum muss bereit sein, eine aktivere Rolle einzunehmen, auch wenn sie nur darin besteht, sich den Film von A bis Z anzuschauen. Das ist an den Eröffnungstagen verständlicherweise meist nicht möglich. Alle Präsentationen mit der gleichen Aufmerksamkeit zu studieren, ist schlicht unrealistisch. Vielleicht müsste man die ganze Biennale einfach etwas verkleinern, statt sie immer mehr aufzublasen. Aber gerade an der Kunstbiennale spielen auch noch andere Player mit; und das macht das «Downsizing» nicht gerade einfacher.
Zurückbuchstabieren ist ein schwieriges Unterfangen. Gerade das ungebremste Wachstum, das mit der Industrialisierung einsetzte, befeuerte auch die Ausbeutung anderer Länder im Zuge der europäischen Kolonialisierung. Die Ressourcenfrage war nicht nur materieller Art, sondern betraf auch menschliche Ressourcen. Die Themen Dekolonialisierung und Dekarbonisierung, die Lokko ins Zentrum ihrer Biennale stellt, sind eng miteinander verknüpft. Denn die Ausbeutung von Menschen aus dem globalen Süden und die Ausbeutung von materiellen Ressourcen bedingen einander. Schwarze Körper («Black Bodies») seien die ersten Energieeinheiten gewesen, gab die Kuratorin zur Antwort, als sie auf den Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen angesprochen wurde.
Lesley Lokko besitzt die Fähigkeit, mindestens verbal positiv in die Zukunft zu blicken, und versteht Afrika als bedeutenden Ort der Wissensproduktion. Das möchte sie auch über verschiedene jüngere «Practioner» – so nennt sie die Teilnehmer*innen, denn diese sind nicht zwingend Architekt*innen – zeigen, denen sie an der Biennale eine Plattform bietet. Generell steht bei vielen Beiträgen weniger die Frage im Vordergrund, wie Bauten formal beschaffen sind, sondern wozu sie dienen sollen und was sie aussagen.
Architektur allein reicht in Lokkos Augen aber nicht, um ihre Geschichte zu erzählen. Gerade in diesen dunklen Zeiten seien auch Künstler*innen gefragt, gab sie an der Pressekonferenz zu verstehen und zitierte die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison. Künstlerische Installationen mischen sich immer wieder ganz selbstverständlich unter die anderen Projekte; und manchmal sagen diese Werke sogar mehr aus als lange Texte und Filme. Eine Sprache für virulente Themen zu finden, die auch erhört wird, ist gewiss nicht einfach.
Mehr als eine Ausstellung stellt diese Biennale eine Art Bruch dar. Vielleicht müsste man interessierten Besucher*innen eher eine Reise in eines der vielen afrikanischen Länder ans Herz legen. Das würde die Augen für die angesprochenen Probleme mehr öffnen, als an die Biennale zu pilgern. Das ist jedenfalls eine der Lehren, die ich aus meinem Besuch zog. Lesley Lokko selbst gründete 2021 in Accra die Architekturschule African Futures Institute. Dort kann sie sicher die wichtigeren Weichen stellen als in Venedig.