Die beiden Basler Architekten und Professoren an der ETH Zürich interessieren sich in ihrer Praxis als Lehrer für die Stadt und ihre unterschiedlichen Gebäudetypologien. Im Rahmen eines mittlerweile aufgegebenen Projekts für ein Kulturzentrum reisten die beiden erstmals nach Usbekistan. In Taschkent trafen sie auf eine lokale architektonische Besonderheit, die sogenannten Mahallas, was auf Arabisch so viel wie Quartier heisst. Daraus entstand im Auftrag des usbekischen Kulturministeriums schliesslich ein anderes Projekt, nämlich das Kuratieren des ersten usbekischen Pavillons für die Biennale von Venedig. Die Architekten sagten zu und stellten zugleich eine Bedingung: Der Pavillon sollte auch die Gelegenheit darstellen, diese besondere Form des Zusammenlebens zu erforschen – ganz im Sinne des Mottos, das Hashim Sarkis für die diesjährige Veranstaltung gewählt hat: «How will we live together?». Die Kuratoren stellten sich zunächst ebenfalls Fragen: Ist diese Form des Zusammenlebens lebenswert? Was können wir von ihr lernen? Inwiefern ist das Leben in den Mahallas überhaupt relevant? Die Ausstellung «Mahalla: Urban Rural Living» präsentiert die Architektur einer modernen vernakulären Stadt, deren Kern die typischen Hofhäuser sind, die auch das Gewebe der historischen Quartiere in der usbekischen Hauptstadt Taschkent prägen.
Diese Form des Wohnens schafft kleinere Gemeinschaften mit familiären, aber auch beruflichen Strukturen. Im Hof wird Gemüse angebaut, es gibt Tiere und teilweise befinden sich dort auch Handwerksbetriebe. Solch hybride Formen zwischen städtischem und ländlichem Leben sind in ganz Asien verbreitet, früher gab es sie auch in China, bevor diese Quartiere dem Erdboden gleichgemacht wurden und neuen Bauten weichen mussten. Spannend ist die Tatsache, dass dieses engmaschige Netz von Bauten in Usbekistan bis heute besteht. Ein Grund mehr, diese Quartiere zu kartografieren und visuell greifbar zu machen, fanden Christ & Gantenbein. Victoria Easton, die Co-Kuratorin der Ausstellung, dokumentierte zusammen mit ihrem ETH-Team und Studierenden aus Taschkent – die Teilnehmer einer multidisziplinäre Einheit genannt CCA Lab – 21 Häuser in zehn solchen Quartieren. Die erstellten Pläne und Karten kann man nun in einem zur Ausstellung erschienen Buch begutachten. Begleitend zu diesem Forschungsprojekt holten Christ & Gantenbein den Künstler Bas Princen, den Filmregisseur Carlos Casas sowie mehrere usbekische Künstler*innen mit aufs Boot. Die beiden Kunstschaffenden ergänzen die Umrisse eines der Hofhäuser im Massstab 1:1 mit mehreren Fotografien beziehungsweise einem Klangteppich. Dadurch entsteht eine dreidimensionale Collage, in der Besucher*innen einem typischen Mahalla-Haus auf besondere Art begegnen können. Wir sprachen mit Emanuel Christ über verschiedene Aspekte dieses gelungenen Pavillons.
Herr Christ, wieso sehen wir hier nur Umrisse?
Emanuel Christ: Mit unserem Beitrag hier in Venedig geht es uns mehr um Abstraktion und um einen gedanklichen Baustein als darum, etwas nachzubauen. Wir haben uns um einen sachlichen und distanzierten Blick bemüht, der nicht romantisiert oder idealisiert.
Wie hat denn das Kulturministerium auf Ihren Vorschlag reagiert? Gab es Einwände?
EC: Die Auftraggeber*innen waren von Anfang an begeistert von unserer Idee. Die jüngere Generation in Usbekistan ist sehr offen und engagiert. Sie haben die Relevanz und das Potenzial dieses Themas sofort gesehen und erkannt, dass es wichtig ist, dieses Phänomen zu dokumentieren und für die Nachwelt festzuhalten, denn Städte verändern sich. Wenn wir an das diesjährige Motto der Biennale denken, dann treffen wir mit dem Thema Mahalla ins Schwarze. Unsere Expertise als Architekten ist diesem Thema viel näher als etwa Fragen der blossen Erhaltung von Kulturgütern, und es ist schön zu sehen, dass sich durch unsere Arbeit die Wahrnehmung der Mahallas verändert hat. Der Staat überlegt sich vermehrt, wie er damit umgehen soll. Das ist eine gute Entwicklung.
Wie haben sich die Mahallas gewandelt? Sind solche selbstverwalteten Strukturen nicht auch problematisch?
EC: Nein, die Infrastrukturen sind organisch gewachsen und auch politisch etabliert. Heute steht eher die Frage im Raum, wie man die Attraktivität solcher Quartiere auch in der Zukunft gewährleisten kann. Historisch gesehen gibt es unterschiedliche Typen von Mahallas, die je nach Epoche anders aussehen. Das erkennt man auf den Plänen der Begleitpublikation sehr schön: Man findet sowohl eher informell gewachsene als auch stadtplanerisch entstandene Strukturen, etwa aus der Sowjetzeit. Weiter finden wir auch Hochhausbauten aus den 1980er-Jahren, die sich an der traditionellen Typologie mit dem Hof und den Laubengängen orientieren.
Was waren die Hauptüberlegungen bei der Umsetzung in Venedig?
EC: Uns war wichtig, dass diese typologische Skulptur mit dem grossartigen Raum im Arsenale in einen Dialog treten kann. Wir wollten keine Kulissenarchitektur machen, sondern die Umgebung Teil dieser Architektur werden lassen. Ein zentraler Akt war zudem das Einbeziehen von usbekischen modern interpretierten Stickereien. Das sind die wichtigsten Zutaten unserer Installation.
Wie ist die räumliche Aufteilung in diesen Häusern? (Wir bewegen uns durch das «Haus»)
EC: Gehen wir kurz in die Küche. Wenn man den Blick hier nach oben richtet, entdeckt man eine Fotografie eines architektonischen Details. Auf der anderen Seite des Hofes befinden sich die privateren Räume. Und wenn wir weiter gehen, finden wir auf diesem Foto von Bas Princen einen Baum, der im Hof steht. Er ist bedeckt mit Tüchern, um ihn vor dem Frühlingsfrost zu schützen.
Gibt es in der ganzen Stadt Mahallas? Wer lebt hier?
EC: Alle Stadtgebiete sind in Mahallas unterteilt. Und dort gibt es gleichermassen alte, aber auch moderne Häuser. Es handelt sich um eine Form des Mehrgenarationenwohnens, wenn man so will, in einem Dorf in der Stadt. Wir stellen ein grosses Spektrum an Diversität fest: Diversität in der Architektur, in den Dimensionen, in der sozialen und religiösen Zugehörigkeit. So gibt es beispielsweise in Buchara eine jüdische Mahalla. Die Leute erkennen heute den Mehrwert solcher Strukturen: Einen Garten zu haben, ist nicht selbstverständlich in einer Stadt. Solche Bewegungen beobachtet man ja auch hierzulande. In den 1970er-Jahren etwa entdeckte man die Altstadt neu.
Wie kam es zur Wahl dieses Materials? Die gelbe Farbe gleicht fast einer Kunstinstallation.
EC: Das hat eine ganz konkrete Inspiration: In vielen älteren Quartieren in Taschkent wurden während der Sowjetzeit Gasleitungen verlegt. Die Standardfarbe dieser Rohre ist derselbe Gelbton, den wir auch hier in Venedig verwendet haben. Die Idee, nur die Abstraktion des Hauses zu zeigen, haben wir mit den real existierenden Rohren kombiniert. Das ist keine referenzielle Architektur, sondern vielmehr eine Art Übersetzung.
Und die Neonröhren? Findet man die auch so?
EC: Ja, durchaus! Die Beleuchtung ist meistens ganz einfach.
Sie bezeichnen diese Lebensform als ökologisch. Könnten Sie das erläutern?
EC: Was das Thema Nachhaltigkeit betrifft, ist für mich der Umgang mit der bestehenden Bausubstanz zentral. Das Neue und das Alte, das Urbane und das Rurale durchwirken sich. Gärten und eine kommunal organisierte Grundversorgung ermöglichen zudem ein funktionierendes, nachhaltiges Ökosystem.
Was haben Sie gelernt von den Mahallas? Ist dieses Konzept skalierbar?
EC: Es ist für uns ein Privileg, Gebäudetypologien zu erforschen. Das erweitert unser Repertoire und wir sind dankbar, dass wir dies mit einem international Publikum teilen dürfen. Die Frage, wie man eine solch spezifische, lokale Architektur in einen anderen Kontext transferieren kann, ist spannend. Die Rolle der vernakulären Architektur als Inspirationsquelle ist auch bei uns ein Thema. Die späte Moderne hat sich immer wieder auf solche Bauten bezogen.
Wie waren die ersten Reaktionen auf die Ausstellung in Venedig?
EC: An der offiziellen Eröffnung spürte man die Genugtuung und den Stolz der staatlichen Vertreter*innen. Ich bin gespannt, was dieses Projekt bewirkt und was es für eine Debatte auslöst.