Wer die Antwort auf die Frage «How will we live together?» wissen will, muss nicht nach Venedig reisen. Und auch Baukünstler*innen, die nach einer Parade der besten Bauwerke ihrer Berufsgenoss*innen suchen, sollten die 17. Architekturbiennale nicht besuchen. Es droht eine schwerwiegende narzistische Kränkung. Die Architekturbiennale von Hashim Sarkis ist betont interdisziplinär und ruft die Architekt*innen dazu auf, den Kontext und die Praxis ihrer Disziplin auszuweiten. Architektur ist zwar per se eine multidisziplinäre Angelegenheit, doch der Frage, was Architektur für die und in der Welt tun kann, wird häufig mit Skepsis begegnet. Dass Sarkis zudem das Motto in eine Frage kleidet, mag jenen Architekt*innen suspekt vorkommen, die von einer solchen Veranstaltung eher Antworten erwarten. Selten hatte eine Architekturbiennale allerdings so deutlichen Manifest-Charakter.
Fragen können auch zu Forderungen führen. Und eine lautet im Falle der Biennale: Wir brauchen einen neuen räumlichen Vertrag («We need a new spatial contract»)! Jean-Jacques Rousseau formulierte 1762 seinen «Contrat social», einen Gesellschaftsvertrag, der das Gemeinwohl ins Zentrum stellte. Die Ungleichheit der Menschen sei keine natürliche, so der Genfer Philosoph, Schriftsteller und Forscher. Seine Schrift gilt bis heute als Grundlagentext der Demokratie. Und nun kommt der amerikanisch-libanesische Architekt, Dekan der renommierten School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT), und fordert das Gleiche für die Architektur? Ja, und das ist gar nicht so abwegig. Denn global betrachtet hat die Ungleichheit zwar vielleicht abgenommen, aber sie manifestiert sich gerade in Zeiten der Corona-Pandemie und der Klimakrise wieder sehr ausgeprägt. Unter den Auswirkungen dieser Geisseln leiden nämlich die ärmsten und schwächsten Menschen am meisten. Sarkis legt mit seinem Motto den Fokus auf das «together», denn wir haben nur diesen einen Planeten zur Verfügung und müssen uns diesen Lebensraum teilen. Welche Handlungsfelder stehen der Architektur zur Verfügung? Ist sie überhaupt die geeignete Disziplin für Veränderung? Kann sie zur Lösung von Problemen beitragen?
Für «seine» Biennale leistet Sarkis vor allem als Denker einen Beitrag, weniger als Architekt mit konkreten Lösungsvorschlägen. Er schafft gleichsam ein gedankliches Raster, das die Beziehung zwischen Mensch, gebauter und natürlicher Umgebung freilegt. 112 Positionen aus unterschiedlichen Disziplinen (neben Architektur sind auch Design, Biologie, Robotik, Soziologie und Kunst vertreten) und aus 46 Ländern präsentieren sich im Arsenale und dem Hautpavillon der Giardini. Die Vielfalt der Ideen ist gross, das kann zunächst verwirren, weil wir eben keine reine Ansammlung von Architekturmodellen vorfinden. Sein kuratorisches Konzept entfaltet sich in fünf Massstäben – vom einzelnen Lebewesen bis zum Planeten – , die jeweils eigene Ausstellungstitel tragen.
Sarkis’ Auswahl mag manchen Kritiker*innen beliebig vorkommen, doch man kann ihm nicht vorwerfen, dass seine Biennale keine klare Gliederung hat. Die thematischen Stränge haben eine grosse Stringenz. Der Kurator glaubt an die Kraft der Imagination und gibt sich insofern optimistisch; ob diese kreativen Impulse nun von der Architektur aus kommen oder von artverwandten Gebieten, ist für ihn unwichtig. «How will we live together?» handelt von so etwas Grundlegendem und Banalem wie dem Leben – und zwar sind damit alle Kreaturen dieser Erde gemeint. Es ist wohl kein Zufall, dass auch die darstellenden Künste gerade vermehrt diesen umfassenden Blick auf unser Zusammenleben richten, wie etwa die Ausstellung «Life» von Olafur Eliasson in der Fondation Beyeler vorführt. Das ist nur das spektakulärste Beispiel, es gibt auch stillere. Wie etwa die Baum-Installation «The Listener» des italienischen Künstlers Giuseppe Penone, die im Arsenale steht.
Die Frage nach dem Zusammenleben ist an sich nicht neu, doch sind wir heute an einen Punkt gelangt, an dem rasches Handeln notwendig ist. Sarkis stellt eine andere Weltsicht in den Raum, die nicht auf Aktionen der Politik wartet, sondern vielmehr die Basis schaffen möchte für eine Veränderung von unten. Die gezeigten Projekte zelebrieren weder das blinde Vertrauen in technische Lösungen noch malen sie ein Bild des Schreckens. Sie rufen zum Umdenken auf. Architektur als Form von Aktivismus? Nicht ganz, denn gefordert sind die Taten aller, Architekt*innen allein werden die Welt gewiss nicht retten. Ist Hashim Sarkis mit seinem Optimismus naiv oder weicht er damit grundlegenden Fragen seiner Berufsgattung aus? Nein, denn dem aktuellen Ökozid können wir nur mit einem neuen komplexen Narrativ beikommen; die Wirtschaftsordnung des freien Marktes hat weitgehend versagt. Es braucht tentakuläres, also verknüpfendes Denken oder «Fadenspiele», wie Donna Haraway in ihrem Buch «Unruhig bleiben» jene Figuren nennt, die neue Narrative produzieren können.
Diese können eben sehr divers ausfallen, wie einige Beispiele aus dem Arsenale zeigen: Mit der künstlerisch anmutenden Installation «Social Contracts: Choreographing Interactions» untersuchen Allan und Ellen Wexler den Einfluss von Räumen auf unser Verhalten, «Variations on a Bird Cage» von Studio Ossidiana ist eine Erforschung des Vogelkäfigs als Objekt, durch das die Menschen ihre Begegnungen mit Vögeln darstellen. Der Designer Tomáš Libertíny schlägt mit «Beehive Architecture» vor, dass Bienen dabei helfen könnten, architektonische Strukturen zu designen. «Alive: A New Spatial Contract for Multispecies Architecture» von David Benjamin imaginiert neue Materialien, bei denen mikrobische Gemeinschaften durch eine Kalibrierung von Licht und Luftzirkulation architektonische Strukturen bilden können. Und auch der Verweis auf das komplexe Wissen und Schaffen von Pilzen fehlt an dieser Biennale nicht. Daneben gibt es durchaus auch konkrete architektonische Projekte zu sehen, die neue Formen des Zusammenwohnens im urbanen Raum vorführen wie etwa «The Multistory Residential Block as Social Platform» von Farshid Moussavi Architecture oder gleich mehrere Projekte von raumlaborberlin. Auch die Genossenschaft als ökonomisches Modell in der Schweiz ist präsent (Anne Kockelkorn und Susanne Schindler). Neue Fertigungsmethoden und Materialien werden zudem vorgestellt – zum Beispiel in Form der Forschungsarbeit von Gramazio Kohler an der ETH Zürich. Überhaupt gibt es an dieser Biennale einige Projekte zu sehen, die aus dieser Forschungsstätte stammen.
Die Abteilung «As Emerging Communities» widmet sich sozialen Infrastrukturen wie Schulen, Gemeinschaftszentren oder öffentlichen Räumen. Diese Beispiele heben auch die Möglichkeit der Partizipation der Bevölkerung hervor. Im Hauptpavillon untersuchen einige Projekte das Leben auf dem Lande als mögliche Alternative zum Leben in Grossstädten, ohne diese beiden Formen gegeneinander auszuspielen. Und nicht zuletzt richtet Sarkis den Blick auf globale Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise oder den Klimawandel.
Was nun wie ein Potpourri klingt, ist vielmehr ein bewusster Versuch, der Frage des Zusammenlebens eine Mehrstimmigkeit zu geben, welche die Bandbreite der möglichen Handlungsfelder aufzeigt. Diese Biennale führt uns vor Augen, dass es keine neuen Bauten braucht, sondern in erster Linie einen Wertewandel. Architektur kann zum Katalysator dafür werden.