Neubau Alters- und Pflegezentrum Rabenfluh

Neuhausen am Rheinfall, Switzerland
Photo © Guido Baselgia
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Photo © Frei & Ehrensperger
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Architekci
Frei & Ehrensperger Architekten
Location
Neuhausen am Rheinfall, Switzerland
Year
2008
Client
Gemeinde Neuhausen am Rheinfall

Text Otto Kapfinger
Wohnen in der Rabenfluh
Er hatte das wohl bedacht. Er konnte die alte große Wohnung allein nicht mehr bewältigen. Auch mit externer Hilfe ging es nicht mehr. Er hatte aber vorgesorgt, und seine Kinder hatten mitgeholfen. Wenn er also diese Räume aufgeben musste, mit all den dazugehörigen ­Verrichtungen und Erlebnissen, mit seinen Gängen im Haus und vor die Tür hinaus, wenn er all das auf eine Zimmereinheit in so einem neuen Altenzentrum reduzieren musste, dann wollte Herr K. wenigstens einen Teil der ihm wichtigen Rituale und Stimmungen irgendwie weiterführen und ­weiterpflegen können: den Weg nach dem Aufstehen ans Fenster für ein paar Atemzüge Frischluft, zur Kontrolle von Wetter und Morgenlicht; später zum Briefkasten unten beim Hauseingang und der Griff dort zur Zeitung; beim Kaffee mit ein paar mehr oder weniger vertrauten Gesichtern zusammensitzen – man muss ja nicht mit allen reden, überhaupt nicht – dabei auf die Straße sehen, was sich da tut, wer kommt und wer geht, wer fährt oder heute nicht fährt; am Nachmittag hin und wieder Besuch haben, mit seiner Tochter oder den Enkeln wo sitzen, mit Aussicht ins Grüne oder in die Nachbarschaft – und zu all dem natürlich die inzwischen ständig nötigen Services für seine diversen Wehwehchen, die körperlichen Unzulänglichkeiten, man kennt das ja.

Und in der Rabenfluh, das hatte er den Unterlagen entnommen, sich auch vor Ort angesehen – das war wohl eine kecke modernistische Sache – in der Rabenfluh wurde ihm all das geboten, und noch mehr. Viele Dinge, die Herr K. erst im Lauf der Wochen dort entdeckte und schätzen lernte. Das Personal war ohnehin wunderbar. Auch hatte er ein Regal, sein altes Fauteuil, ein paar Bilder, Bücher und Disketten mitnehmen können. Das war schon gut, eigentlich selbstverständlich, bei dem Preis. Aber hier gab es was Besonderes dazu. Er konnte von seinem Bett mit wenigen Schritten ohne Stolperschwelle ganz eben auf eine Loggia hinaustreten, über riesige Baumkronen den Hang hinunter auf den Rhein sehen und die Morgensonne über dem Kohlfirst betrachten; auf dieser Seite war die Stadt wenig zu hören, nur das gedämpfte Rauschen der Züge unten neben dem Fluss in der Schneise, fast unsichtbar. Es war doch gut, diesen Rhythmus ein wenig zu spüren, zu wissen, dass hier die Leute morgens zur Arbeit nach Winterthur, Zürich oder nur nach Bülach ­fuhren und abends retour, dass da jede Stunde der Schnellzug nach Basel durchkam...
Und diese Loggia hatte Glaswände und eine Glastür vom Boden bis zur Decke, sodass er sogar im Liegen vom Bett aus noch die Bäume an der Zufahrt und die Waldkon­turen drüben sehen konnte und dass die Sonne am Zimmerboden ganz weit in den Raum hereinstreifen und herumwandern konnte. Es kam Herrn K. so vor, als hätte er mit dieser Loggia und der holzgetäfelten Nische daneben ein Stück Natur, ein Stück Rheinfall und Neuhausen direkt ins ­Zimmer hereingeholt – das hatte er in der alten ­Wohnung nicht gehabt; und der Clou dabei war noch, dass er, wenn er wollte, die Jalousie an der seitlichen Glasfront der Nische aufmachen konnte und dann noch weiter schräg ins Tal hinein sehen und noch mehr Himmel überblicken konnte. Man musste sich dazu zwar mit den Zimmernachbarn arrangieren, das war nicht einfach, ein bisschen ­delikat, aber es ging schon, langsam eben...
Wenn dann einmal mehrere nebeneinander diese Jalousien offenhielten, war es fast, als hätte man eine große gemeinsame Terrasse als Bonus dazu, die Zimmer ­weiteten sich dann in eine lichte, beschattete Promenade, zumindest für die Augen, für das räumliche Gefühl...

Zu den Mahlzeiten musste er ins Haus hinunter – Herr K. hatte das dritte Zimmer in der Reihe von sieben im 2. Stock. Der Weg zum Speiseraum und zurück war immer eine Aufgabe, kostete Überwindung, speziell an den Tagen, wo er sich nicht gut fühlte und den Rollator als Stütze brauchte. Doch Gänge und Stiegen- / Lifthaus waren geräumig, boten allerhand Abwechslung. Vom ­Zimmer links hinaus zur Stiege war es kaum dreißig Schritte: zunächst ein Stück Gang, aber nicht monoton oder tunnelartig, wie Herr K. schon Gänge erlebt hatte, denn alle paar Schritte gab es kleine Nischen, Wechsel im Licht und Material: gleich gegenüber hatte er die Fenster und Glastür der Stationsräume, in feine Holzwände gebettet, mit elegantem Eiche-Griffboard über die ganze Länge. Das Tageslicht konnte da über die Bade- und Stationsräume von der anderen Hausseite herüberwirken; wenn das Pflegebad zu entsprechenden Tageszeiten belegt war, blockierte ein Rollo die Einsicht, die Glasfläche war aber immer noch hell und man wusste, dass da Betrieb war. Zur Stiege auf halbem Weg weiter leuchtete seitlich ein großes Wandbild mit Blumenmustern herüber, vom Gangfenster und dem Oberlicht am Dach erhellt; in dieser, seiner Etage war es Gelb-Grün, das wußte Herr K., auf den anderen Etagen waren Farbe und Muster anders, man hatte es ihm mehrmals gezeigt und erklärt, er behielt die Namen und Unterschiede nicht wirklich im Gedächtnis, doch sein Gelb-Grün, das kannte er genau. Und gleich dahinter war das in die Stiegenbrüstung eingelassene Holzregal für die Postfächer und die Zeitungen, mit einer Sitzbank dazwischen: sehr praktisch für eine Pause – und um die Ecke der Lift.
Es war, wie gesagt, für ihn ein etwas modernes, nüchternes Interieur, doch dessen Vorzüge erschlossen sich ihm nach und nach: die gute Übersicht, die Klarheit der Linien, der gut gestaffelte Rhythmus von Hell und Dunkel, gut für die Augen, gut für die Einschätzung der Beine, der Atmung, der Kraft zur Bewegung, der Distanzen; der Boden fest aber nicht zu hart, nicht laut, vielleicht einen Tick zu dunkel, zu eintönig, dafür die Wände gegliedert im Wechsel von vor und zurück. Die sandfarbenen Beton­flächen strahlten Stärke und Ruhe aus, fühlten sich samtig rauh an, wenn er sich abstützte, hatten leicht gerundete Kanten, dazwischen glattes Eichenholz – die Türen, die Nischen, die Stationswand, die Sitze, die Fensterrahmen; das Licht nicht blendend, immer aus Nischen indirekt oder seitlich hereingeführt.
Das Wichtigste waren ihm freilich die Plätze, zu denen diese inneren Wege im Haus führten, sozusagen die «Salons» zu seinem Zimmer: die «Stube» an der Rheinseite mit dem großen Fenster gegenüber der Hauptstiege und – für ihn noch wichtiger – die «Wohnküche» an der Stadt- und Westseite des Hauses bei der zweiten Stiege am anderen Ende des Ganges. Vom Zimmer bis dorthin waren es kaum fünfzig Schritte, nach rechts hinüber. Er hatte es oft im Stillen gezählt, langsam, seit er sich vor Jahren angewöhnt hatte, Beine und Füße aufmerksamer zu setzen, in der richtigen Haltung und Motorik, wie es ihm die Physiotherapeutin beigebracht hatte. Das gab ihm Orientierung, Sicherheit, Maß, aber auch irgendwie Zufriedenheit, Zeitgefühl, mitunter fielen ihm dazu plötzlich Takte einer Musik ein – merkwürdig.

In dieser Wohnküche konnte man am späten Nachmittag herrlich sitzen, es gab genug Platz für eine ganze Runde und für Besuch, es gab Tee oder leichten Kaffe und etwas Leichtes zum Beissen, die Sonne kam schräg und wohlig herein, angenehm gefiltert durch die lindgrünen Markisen vor den Glasfenstern; sonst sah man dort auf die ansteigenden Häuser und Dächer des Zentrums von Neuhausen. Man konnte dort eine kleine Plauderei anfangen oder sich auf die Holzbank an der Stiegenwand zurückziehen; am liebsten hatte er später, vor dem Abendessen, den fast versteckten Sitzplatz noch weiter drüben, an der Rückwand der Pflegestation. Dort war meist der Lüftungsflügel in der Glaswand aufgespreizt und er konnte die Geräusche der Stadt, die Stimmen aus den Nachbarhäusern, die Vögel in den Bäumen im Hinterhof hören. Wenn er dann die Runde um den Stationsblock – das Holzetui, so erschien es ihm – fertigmachte und vor dem Dinner noch das WC im Zimmer aufsuchte, hatte er gut 130 Schritte allein auf dieser Runde absolviert und alles gesehen, was am Tag auf seiner Etage und draußen rundum so los war.

Herr K. war jetzt 81, er hatte seit langem mit dem Rheuma zu kämpfen, hatte vor Jahren einen Schlaganfall gut überstanden, war danach etwas still geworden, aber Augen und besonders Ohren waren noch fit. Auch wenn man es ihm nicht so ansah, es interessierte ihn, was im Haus und rundherum vorging; an manchen Tagen mochte er vielleicht morgens gar nicht hinaus, aber es gab hier stets Hilfe und Motivation. Das Haus gefiel ihm immer mehr. Wenn er seine Diät einhielt, jeden Tag die Runde machte und manchmal sogar ein paar Stiegen herauf dazunahm, konnte er noch einige Zeit gut zubringen, und er nahm sich vor, demnächst die Dachterrasse am Annex für die schon ganz eingeschränkten Mitbewohnerinnen zu erkunden. Vielleicht konnte er dort in einer stillen Morgen- oder Abendstunde das Rauschen des Rheinfalls hören – gar nicht weit weg, südwärts, hinter der Flußbiegung.

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